Rede von Götz Dieckmann

Meine Damen und Herren, liebe Schüler!

Wir haben uns auf dem Gelände des ehemaligen Frauen-KZ-Außenlagers versammelt, um die Opfer zu ehren und an die kampflose Übergabe unserer Stadt vor neunundsechzig Jahren zu erinnern.
Die dramatischen Geschehnisse der ersten Maitage des Jahres 1945 sind – vor allem dank verdienstvoller Publikationen von Gerhard Dorbritz – sehr gut dokumentiert.
Um jedoch zu verstehen, wie sehr die Existenz unserer Stadt damals buchstäblich am seidenen Faden hing, ist es geboten, auch die Lage in den Wochen zuvor ins Blickfeld zu rücken.
Als Historiker möchte ich unterstreichen: Die Geschicke unserer Stadt und ihres Umlands waren stets mit der nationalen Geschichte verknüpft. Doch Belzig und der Hohe Fläming haben darüber hinaus mehrmals einen Platz in weltgeschichtlichen Darstellungen gefunden. Unsere Heimat gehörte zum Ursprungsterritorium der Reformation. Die Schlacht von Hagelberg spielte 1813 im Vorfeld der Völkerschlacht bei Leipzig eine Rolle, vor allem deshalb, weil sie den militärischen Wert der preußischen Landwehr eindrucksvoll bestätigte. Und schließlich erfaßte der Atem der Weltgeschichte Belzig in jenem Frühjahr 1945 - und er hat sie keineswegs nur gestreift.
Beginnen wir mit einer Tatsache, die damals keinem Bürger unserer Stadt bekannt war: Am 1. April 1945 beschloss in Moskau das Oberkommando der sowjetischen Streitkräfte, die „Berliner Operation“ vorzuverlegen. Marschall Shukows I. Belorussische Front sollte von Küstrin aus direkt auf Berlin vorgehen. Für die
I. Ukrainische Front unter dem Befehl des Marschalls Konew wurde als Richtung ihres Hauptschlages die Linie Spremberg-Belzig festgelegt.
Es gilt also der Frage nachzugehen, wieso Strategen im fernen Moskau ausgerechnet die kleine Stadt Belzig, nicht etwa Dessau, Magdeburg oder Brandenburg, als Zielpunkt einer so mächtigen Offensive bestimmten. Das hatte mehrere Ursachen: Zunächst haben gewiß die Militärs Pläne der Feldzüge des Jahres 1813 studiert. Denn ebenso wie damals geboten geographische Gegebenheiten, die Elblinie ins Visier zu nehmen und sich der nördlich des Flusses gelegenen Höhenzüge des Lausitzer Grenzwalls, des Niederen und Hohen Flämings, zu bemächtigen. Doch allein der Blick auf alte Karten führte keineswegs zu der Entscheidung, der Front Konews Belzig als Ziel zuzuweisen.
Anfang April 1945 hatte der Oberkommandierende der Westalliierten, General Eisenhower, mit der sowjetischen Führung vereinbart, in der Endphase des Krieges solle der nördliche um Berlin gelegene Raum vom südlichen Teil des noch vorhandenen Machtbereichs Hitlerdeutschlands getrennt werden. So ist es dann gekommen und am 25. April reichten Amerikaner und Russen sich schließlich bei Torgau die Hände.
Doch soweit sind wir noch nicht. Belzig als strategischer Zielpunkt wurde auch deshalb festgelegt, weil mit seiner Einnahme sowohl die Autobahn Berlin-München, als auch die so genannte „Kanonenbahn“ abgeschnitten würden. Das waren die wichtigsten Transportstränge, über die Wehrmacht und SS noch verfügten. Und es kam ein dritter gewichtiger Faktor hinzu: Belzig, der Hagelberg und Wiesenburg waren in den letzten Kriegsjahren ein Zentrum der Nachrichtenübermittlung Nazideutschlands. Das betraf zum einen die Funk- und Empfangsanlagen bei der Kreisstadt. Die Abteilung Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht verfügte zwar ursprünglich über eine weitere derart leistungsfähige Funkanlage zur weltweiten Verbindung mit Auslandsagenten und Schiffen auf den Weltmeeren. Diese, in Wohldorf bei Hamburg, befand sich im April 1945 jedoch im Visier der Briten. Der wichtigste noch verfügbare Funkstandort dieser Reichweite war somit Belzig. Zu erwähnen ist, dass in den letzten Kriegsjahren über Belzig auch die Verbindung mit dem verbündeten Japan aufrechterhalten wurde. So erklärt es sich, warum in der Stadt damals japanische Offiziere auftauchten und schließlich das Personal der japanischen Botschaft im Hohen Fläming Zuflucht suchte.
Doch es ging nicht nur um diese Funkanlage. Auf dem Hagelberg stand zudem eine Umsetzerstation des drahtlosen telefonischen Verbindungsnetzes der Wehrmacht. Und noch ein weiterer Punkt ist zu erwähnen: Deutschland verfügte damals auch über ein hochmodernes Netz unterirdischer Telefonkabel. Dessen äußere Ringleitung um Berlin und die Trasse Berlin-München kreuzten sich unweit unserer Stadt. Aus all diesen Gründen saß ab 1943 die für sämtliche Nachrichtenverbindungen des Heeres, der Marine und der Luftwaffe verantwortliche Abteilung des Wehrmachtsführungsstabes auf Schloß Wiesenburg, und ein großer Teil des technischen Personals war in Schmerwitz untergebracht.
Der sowjetischen und der westalliierten Aufklärung ist das nicht verborgen geblieben und nun verstehen wir, warum Belzig damals ein strategischer Zielpunkt wurde.
Aber auch das besagt noch nicht alles: Die von General Simpson befehligte 9. US-Armee erkämpfte sich Mitte April den Übergang über die Elbe und eroberte nördlich der Saale-Mündung den „Brückenkopf Barby“. Da die Wehrmacht zuvor die dortige Eisenbahnbrücke der „Kanonenbahn“ über die Elbe gesprengt hatte, errichteten amerikanische Pioniereinheiten mit Hochdruck eine Pontoneisenbahnbrücke und gaben ihr – da Roosevelt am 12. April verstorben war – zu Ehren seines Nachfolgers im Amt des US-Präsidenten den erwartungsvollen Namen „Truman-Bridge. Gateway to Berlin“ (also soviel wie „Toreinfahrt nach Berlin“). Denn entgegen Eisenhowers Befehl, im Bereich der Elbe Halt zu machen, drängte es nicht nur Winston Churchill, sondern auch amerikanische Generäle, direkt in den Kampf um Berlin einzugreifen.
Wer eine Karte zur Hand nimmt und mit einem Lineal die Distanz zwischen dem „Brückenkopf Barby“ gegenüber der Saale-Mündung und Berlin misst, der sieht, dass solch Vorstoß unausweichlich über Belzig geführt hätte, das genau auf der Hälfte der Strecke liegt.
Zählt man die genannten Fakten zusammen, dann stand es um die weitere Existenz Belzigs Mitte April äußerst schlecht. Denn am 16. April, eben jenem Tag, an dem die sowjetischen Streitkräfte die gewaltige „Berliner Operation“ einleiteten, machten die Amerikaner vor Zerbst mit ihren Bodentruppen kurz Halt und forderten eine Bomberflotte an, die Zerbst, das „anhaltinische Rothenburg“, binnen weniger Minuten zu 80 Prozent zerstörte.
Im Falle von Widerstand der soeben formierten „Armee Wenck“ im Raum Belzig hätte unsere Stadt ohne Zweifel dasselbe Schicksal ereilt. Man darf ja nicht übersehen, dass der Stab der Armee Wenck, die zu diesem Zeitpunkt noch in Richtung Westfront aufgestellt war, nicht wegen der schönen Landschaft in der Försterei „Alte Hölle“ und in Mahlsdorf bei Reetz saß. Dieser Kommandopunkt wurde aus den Gründen gewählt, die ich soeben genannt habe.
Erst am 23. April 1945 erschien Generalfeldmarschall Keitel in Wencks Gefechtsstand und übermittelte den Befehl, die 12. Armee müsse kehrtmachen, um „den Führer herauszuhauen“. Belziger Bürger haben Keitel in voller Uniform damals auf dem Marktplatz gesehen und wir dürfen vermuten, dass sein Auftauchen zu diesem Zeitpunkt keineswegs Optimismus verbreitete.
Doch es gab eine einschneidende Veränderung dieser ausweglos erscheinenden Situation, ohne dass Einwohner Belzigs schon hätten dazu beitragen können. Eisenhower stoppte  seine Generäle und Shukows direkter Zugriff auf Berlin verzögerte sich durch die verlustreichen Kämpfe um die Seelower Höhen. Daraufhin befahl das sowjetische Oberkommando, Konews I. Ukrainische Front müsse entlang der Linie Wittenberg - Beelitz nach Norden einschwenken, um direkt in den Endkampf zur Einkesselung und Eroberung Berlins einzugreifen. So ist es geschehen und bekanntlich schloß sich der Ring um Berlin am 25. April bei Ketzin. Belzig wurde also glücklicherweise durch mehrere nicht vorhersehbare Umstände aus einem strategischen Ziel zu einem Nebenkriegsschauplatz.
Und was erwarteten, oder besser, was befürchteten die Belziger in jenen Tagen? Sie hatten Angst, die Sieger könnten der alttestamentarischen Maxime „Auge um Auge, Zahn um Zahn !“ folgen. Und das verhieß Schlimmes. Denn die meisten hatten von Soldaten der Ostfront erfahren, dass die Wehrmacht, - wohlgemerkt die Wehrmacht und nicht die SS – 1941 und 1942 Millionen sowjetische Kriegsgefangene systematisch hatte verhungern lassen. Wer Augen und Ohren nicht absichtsvoll verschloß, wusste auch vom Massenmord an den Juden Europas, selbst wenn einzuräumen ist, dass die Methoden industrialisierter Ausrottung in Auschwitz, Maidanek, Sobibor und andernorts den meisten damals noch nicht bekannt waren. Und schließlich war den Belzigern klar: Angesichts des Zwangsarbeiterlagers der Munitionsfabrik Roederhof und vollends wegen des Frauen-Konzentrationslagers unmittelbar am Stadtrand, würden sie nicht behaupten können, sie hätten nichts gewusst.
Bedenken wir diese Lage, dann kann die mutige Tat unserer Ehrenbürger, des Lehrers Arthur Krause und des katholischen Pfarrers Erich Tschetschog, sowie weiterer entschlossener Bürger Belzigs Anfang Mai 1945 nicht hoch genug gewürdigt werden.
Arthur Krause kam im April nach Belzig. Er fand seine Familie nicht mehr lebend vor. Doch er gab nicht verzweifelt auf. Am 1. Mai beriet er mit Genossen der KPD und der SPD im Alten Ratskeller in der Wiesenburger Straße, was zu tun sei und versuchte, gemeinsam mit Pfarrer Tschetschog, den Stadtkommandanten zum Abzug zu bewegen, um bewaffneten Widerstand gegen die Sowjetarmee zu unterbinden. Trotz dessen Zurückweisung rief Krause aus dem Fenster des Rathauses die Belziger dazu auf, weiße Fahnen zu hissen. Tschetschog, Krause und all jene, die zuerst solche Fahnen vor ihren Fenstern zeigten, handelten unter Lebensgefahr. Wichtig ist, zu erwähnen, dass Arthur Krause und Erich Tschetschog Kontakt zu den Zwangsarbeitern des Roederhoflagers aufnahmen.
Am 2. Mai hatte die Kommandantur dann Belzig verlassen und an den meisten Häusern, auch vom Burgturm, wehten nun die Zeichen der Kapitulation. Am Nachmittag des folgenden Tages gingen Krause und Tschetschog, gemeinsam mit anderen, in der Niemegker Straße dem ersten sowjetischen Spähwagen entgegen und übergaben die Stadt. Der Kommandeur soll „überrascht reagiert“ haben. Das ist sicher so gewesen. Denn was hatten Marschall Konews Soldaten seit der Aufstellung der I. Ukrainischen Front bei Woronesch 1942 denn anderes gesehen und erlebt, als verbrannte Erde, tote Kameraden und fanatischen Widerstand des Gegners. Diese kampflose Übergabe war eine seltene, unerwartete Ausnahme.
Wir hüten mit der Erinnerung an ihre Helden einen wertvollen Schatz. Sie haben in finsterster Zeit einen Beitrag zur Verteidigung der Ehre unserer Nation geleistet.

Dies Vermächtnis ist verpflichtend!

Götz Dieckmann